"Etwa zwanzig Jahre lang wurde in unserer Anstalt ein Mädchen namens Käthe gepflegt. Es war von Geburt an geistesgestört und hatte nie ein Wort sprechen gelernt. Stumpf vegetierte Käthe dahin. Abwechselnd stierte sie bewegungslos stundenlang vor sich hin oder befand sich in zappelnder Bewegung. Sie aß und trank, sie schlief, stieß auch einmal einen Schrei aus. Andere Lebensregungen hatten wir an ihr in den langen Jahren nie wahrgenommen. An dem, was in ihrer Umgebung vor sich ging, schien sie nicht den geringsten Anteil zu nehmen. Auch körperlich wurde das Mädchen immer elender. Ein Bein musste ihr abgenommen werden, und das Siechtum wurde stärker. Schon längst wünschten wir, dass Gott dem armseligen Leben ein Ende mache.
Da rief mich eines Morgens plötzlich unser Doktor an und bat mich, mit ihm gleich einmal zu Käthe zu gehen, die im Sterben liege. Als wir in die Nähe des Sterbezimmers kamen, fragten wir uns, wer wohl gar Käthe in ihrem Zimmer die Sterbelieder singe. Als wir dann ins Zimmer traten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht. Die von Geburt an völlig verblödete Käthe, die nie ein Wort gesprochen hatte, sang sich selbst die Sterbelieder. Vor allen Dingen sang sie immer wieder: Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh ... Etwa eine halbe Stunde lang sang sie mit selig verklärtem Gesicht und ging dann sanft und still heim.
Nur in tiefster Bewegung konnten wir das Sterben dieses Mädchens miterleben."
(Ein früherer Direktor der Anstalt Hephata in Treysa)
Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.
Matthäus 18,10
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage 2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlage
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