Der zunehmende Straßenlärm dringt gnadenlos durch die unverglasten Fenster. Er beeinträchtigt aber kaum die feierliche Stille und das andächtige Gebet der mehr als hundert versammelten Ordensschwestern und Novizinnen in ihren weißen Saris. In der letzten Reihe steht die kleinste und unauffälligste von ihnen, Mutter Teresa. In ihrer stillen Gebetshaltung scheint sie gleichsam eingetaucht in eine andere Welt, aus der sie neue Kraft für den Tag schöpft. Das Gebet sei ein wunderbares Geschenk und brauche einen festen Platz in ihrem Alltag, berichtet mir später die kleine, demütige Frau. "Je mehr wir im stillen Gebet empfangen, desto mehr können wir geben." Mutter Teresa steht jeden Morgen um 4.00 Uhr auf und meditiert über Gottes Wort, bevor sie zum Abendmahl geht. "Power Station" nennt Mutter Teresa ihren Andachtsraum, in dem wir nach dem Frühstück auf einer alten Holzbank unser Gespräch vom Vorabend fortsetzen. Ich schaue auf ihre schwieligen Hände, die so manche Wunde verbunden haben, ihre von der Gicht deformierten nackten Füße genießen die Ruhepause. Ausnahmsweise ist sie heute nicht unterwegs zu den von ihr über 500 gegründeten karitativen Einrichtungen in 108 Ländern der Erde, die von über 4 000 Missionarinnen der Nächstenliebe betreut werden. Allein in Indien werden mehr als 40 000 Leprakranke beherbergt. Mutter Teresa sagt: "Berufung ist die Einladung, sich in Gott zu verlieben und diese Liebe unter Beweis zu stellen." Einige Tage vor unserem Gespräch hat die gebürtige Albanerin und jetzige indische Staatsbürgerin wieder 65 neue Schwestern in ihren Orden aufgenommen, der ständig wächst. Ich möchte gerne wissen, warum die Missionarinnen der Nächstenliebe so fröhlich sind. Lächelnd wird mir geantwortet: "Die Quelle unserer Freude ist Jesus." Und Mutter Teresa sagt: "Was wäre, wenn unser Leben, unsere Schwestern nicht heiter wären? Sklavendienst. Freude dagegen ist ansteckend. Deshalb sollt ihr (gemeint sind die Ordensschwestern) immer von Freude erfüllt sein, wenn ihr zu den Armen geht." "Was werden Sie Jesus sagen, wenn Sie in den Himmel kommen?" frage ich Mutter Teresa. "Ich liebe dich und danke dir, daß du mich gebraucht hast", flüstert die 84jährige kleine Frau und ergänzt: ,,. .. das Beste, was mir auf dieser Erde passieren konnte." Als ich mich von ihr verabschiede, überreicht sie mir ihre Visitenkarte. Ich lese: "Die Frucht der Stille ist das Gebet. Die Frucht des Gebets ist der Glaube. Die Frucht des Glaubens ist die Liebe. Die Frucht der Liebe ist der Dienst. Die Frucht des Dienstes ist Frieden. Mutter Teresa." (Günther Klempnauer) "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" Matthäus 22,37ff
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage 2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlage
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