top of page

»Gedanken für den Tag«

AutorenbildAxel Kühner

Eine Hirtenlegende

Es war einmal ein Hirte, der lebte auf einem Felde in der Nähe Bethlehems. Er war groß und stark, aber er hinkte und konnte nur an Krücken gehen. Darum saß er meistens mürrisch am Feuer und sah zu, daß es nicht ausging. Die anderen Hirten fürchteten ihn.

Als den Hirten in der Heiligen Nacht ein Engel erschien und die frohe Botschaft verkündete, da sah und hörte er nichts. Und als sie ihm alles erzählten und sich aufmachten, um das Kind zu finden, so, wie es ihnen der Engel gesagt hatte, blieb er allein am Feuer zurück. Er schaute ihnen nach, sah, wie das Licht ihrer kleinen Lampen kleiner wurde und sich in der Dunkelheit verlor.

"Lauft, lauft! Was wird es schon sein? Ein Spuk, ein Traum!" Die Schafe rührten sich nicht. Die Hunde rührten sich nicht. Er hörte nur die Stille. Er stocherte mit der Krücke in der Glut. Er vergaß, frisches Holz aufzulegen. Und wenn es kein Spuk, kein Traum wäre? Wenn es den Engel gab? Er raffte sich auf, nahm die Krücken unter die Arme und humpelte davon, den Spuren der anderen nach. Als er endlich zu dem Stall kam, dämmerte bereits der Morgen. Der Wind schlug die Tür auf und zu. Ein Duft von fremden Gewürzen hing in der Luft. Der Lehmboden war von vielen Füßen zertreten. Er hatte den Ort gefunden. Doch wo war nur das Kind, der Heiland der Welt, Christus, der Herr in der Stadt Davids? Er lachte. Es gab keine Engel. Schadenfroh wollte er umkehren.

Da entdeckte er die kleine Kuhle, wo das Kind gelegen hatte, sah das Nestchen im Stroh. Und da wußte er nicht, wie ihm geschah.

Er kauerte vor der leeren Krippe nieder. Was machte es aus, daß das Kind ihm nicht zulächelte, daß er den Gesang der Engel nicht hörte und den Glanz Marias nicht bewunderte!

Was machte es aus, daß er nun nicht mit den anderen in Bethlehem durch die Straßen zog und von dem Wunder erzählte!

Was ihm widerfahren war, konnte er nicht mit Worten beschreiben. Staunend ging er davon. Er wollte das Feuer wieder anzünden, bevor die anderen Hirten zurückkämen. Doch als er eine Weile gegangen war, merkte er, daß er seine Krücken bei der Krippe vergessen hatte. Er wollte umkehren.


Warum denn? Zögernd ging er weiter, dann mit immer festeren Schritten.

(Max Bolliger)


"Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!"

Lukas 2,10f

 

Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"

 © 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage 2016

 Mit freundlicher Genehmigung des Verlage


32 Ansichten0 Kommentare

Silvester - ein Tag voller Möglichkeiten

Mutter und Vater für alle ihre kleinen und großen Mühen danken. Kinder und Schwiegerkinder mit einem besonderen Gruß erfreuen. Einem...

Zuspruch am Ende des Jahres

Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt. Es münden alle Pfade durch...

Was ist das für eine Nacht?

Selma Lagerlöf erzählt in einer ihrer Legenden von der Nacht, in der das Jesuskind geboren wird. Josef geht über das Feld, um Feuer bei...

Commentaires


Gedanken für den Tag

bottom of page