Ein Rabe hatte einmal aus einem offenen Fenster eines Wohnhauses ein Stück Käse gestohlen. Er setzte sich auf einen hohen Baum und wollte den Käse genüsslich verzehren. Und wie es eben Rabenart ist: Man hörte seine Fressgeräusche weit. Man hörte, dass es ihm schmeckte. Das vernahm ein Fuchs. Der dachte bei sich: "Wie komme ich zu dem Käse? Jetzt weiß ich's!" Er schlich sich ganz nahe an den Baum, auf dem der Rabe saß, und sagte: "0, lieber Rabe! Ein ganzes Leben lang habe ich noch keinen so schönen Vogel gesehen wie dich. Und wenn deine Stimme auch so schön klingt, wie du schön bist, dann sollte man dich zum König über alle Vögel krönen." Das tat dem Raben gut. Das hatte noch niemand zu ihm gesagt. Dass der Fuchs so gut zu ihm sein konnte? Der Rabe wurde ganz stolz, plusterte sich auf und machte sich bereit zum Singen. Dabei vergaß er seinen Käse. Wie er nun seinen Schnabel aufmachte und den ersten Ton herauskrächzte, fiel der Käse auf den Boden, genau vor das Maul des Fuchses. Der Fuchs machte sich sofort ans Fressen und lachte über den dummen Raben.
(Nach einer Fabel von Martin Luther)
"Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall!"
(Sprüche 16,18)
Axel Kühner "Überlebensgeschichten für jeden Tag"
© 1991 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 21. Auflage 2018
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Comentarios